Erhöhter TSH-Wert – wirklich unbedenklich?
Manche Endokrinologen und Internisten stehen neuerdings auf dem Standpunkt, dass eine Unterfunktion der Schilddrüse nicht behandelt werden muss, wenn der TSH-Wert zwar erhöht ist, aber noch unter 10 liegt. Diese Ärzte stützen sich auf Empfehlungen aus den USA, die teils auch auf deutschen Ärztefortbildungen verbreitet werden. Genau betrachtet gilt der TSH-Bereich von 4,5 bis 10 als relative Therapieindikation, das heißt: Eine Behandlung mit Thyroxin muss nicht zwingend aufgeschoben, aber auch nicht unbedingt begonnen werden.
Worauf bezieht sich die Entwarnung für die latente Unterfunktion mit einem TSH-Wert zwischen 4,5 und 10? Die Sache bleibt recht allgemein – für Menschen unter 65 soll kein erhöhtes Risiko zu sterben nachweisbar sein. Von Symptomen der Unterfunktion ist zumindest in einem Artikel des Bayerischen Ärzteblattes *) nicht die Rede. Hinzu kommt, dass manche Ärzte auch bei Patienten mit Beschwerden eine Behandlung der Unterfunktion eher aufschieben, als eine eventuelle Übertherapie zu riskieren. Damit kann schon eine Dosierung gemeint sein, die zeitweise einen leicht erniedrigten TSH-Wert nach sich zieht. Dass ein erniedrigter TSH-Wert ungünstige Effekte haben könnte, kann derzeit nicht ganz sicher ausgeschlossen werden.
Aber wie sieht es für einen TSH-Wert im Bereich zwischen 4,5 und 10 aus, der nach gängigen ärztlichen Definitionen zwar eine Schilddrüsenunterfunktion anzeigt, aber neuerdings nicht mehr behandelt werden braucht? Ist hier alles bestens, nur weil es nicht nachweislich das Leben verkürzt? Wie ist es wohl bei einem erhöhten TSH-Wert oder auch freien Hormonwerten im niedrig-normalen Bereich um die kognitiven Fähigkeiten bestellt – Aufmerksamkeit, Lernen und Erinnern? Oder um die koordinativ-motorischen Fähigkeiten, zu denen die Reaktionsfähigkeit zählt?
Wir Menschen leben nicht mehr in Höhlen. Wir müssen uns bei der Arbeit gut konzentrieren und komplexe Dinge im Überblick behalten, und im Straßenverkehr müssen wir schneller reagieren können als vor hundert Jahren. Ein Beispiel: Überqueren Sie mal in der Dämmerung im Berufsverkehr der Großstadt eine Kreuzung ohne Ampel, wenn der Querverkehr Vorfahrt hat, die Fahrbahn von parkenden Autos gesäumt ist und dahinter kaum einsehbare Radwege verlaufen, auf denen auch noch Geisterradler unterwegs sind … Das wäre auch für Gesunde und für optimal behandelte Schilddrüsenpatienten nicht einfach. (Es handelt sich übrigens nicht um ein konstruiertes Beispiel, es gibt solche Kreuzungen.)
Die Deutsche Gesellschaft für Endokrinologie hat meine Anfrage zu diesem Themenfeld nicht beantwortet. Doch mittlerweile wirft die Pubmed-Datenbank eine interessante Veröffentlichung aus: Thyroid hormones are associated with cognitive function, lautet der Titel. Und siehe da: a higher total thyroxine (tT4) level was associated with better performance in the domain of psychomotor speed – ein höherer Thyroxin-Spiegel (Gesamt-T4) ging mit schnelleren psychomotorischen Leistungen einher. Die Forscher haben noch weitere Zusammenhänge zwischen Schilddrüsenwerten und diversen kognitiven und motorischen Fähigkeiten festgestellt, zum Teil zeigten sich dabei Unterschiede nach Geschlecht und weiteren erfassten Merkmalen.
Fazit: Nur weil ein erhöhter TSH-Wert nicht direkt lebensgefährlich ist, muss er keineswegs unbedenklich sein. Wir Menschen möchten nicht irgendwie überleben, indem wir dahin vegetieren, sondern wir möchten gut leben! Außerdem sollte man die Diskussion nicht allein am TSH-Wert festmachen, der die Schilddrüsenfunktion ohnehin nur indirekt anzeigt. Es ist ein entscheidender Unterschied, ob ein TSH-Wert bei Gesunden durch akute Belastungen vorübergehend in die Höhe geschnellt ist, oder ob jemand eine womöglich unerkannte Schilddrüsenkrankheit hat.
Eine Hashimoto-Thyreoiditis sollte frühzeitig behandelt werden – das kann sogar sinnvoll sein, wenn noch alle Werte im Normalbereich liegen. Man muss also nicht zwingend auf einen erhöhten TSH-Wert warten, geschweige denn auf einen Wert über 10. Die ausführliche Begründung finden Sie im Buch oder Ebook zur Schilddrüsenunterfunktion (siehe auch pinkfarbene Titel rechts).
*) Neues aus der Endokrinologie [PDF]. Bayerischen Ärzteblatt 5/2010.
Letzte Überarbeitung des Blogartikels: 22.12.2015
Ähnliches Thema: Unterfunktion und TSH-Wert bei Spiegel.de (2018)
Danke für den Hinweis auf die neue Veröffentlichung. Mein (vor allem psychisches) Befinden war zum Zeitpunkt der Hashimoto-Diagnose trotz des nur mäßig erhöhten TSH-Werts von etwa 5 miserabel. Vor allem Konzentrationsschwierigkeiten und Lethargie haben meine Leistungsfähigkeit merklich eingeschränkt. Insofern bin ich froh, dass meine Ärztin damals nicht gezögert hat, mir L-Thyroxin zu verschreiben.
Ein TSH um 5 – so weit habe ich es zum Glück nicht gebracht … deshalb sagt mir persönlich der fT4-Wert mehr. Spätestens wenn er ins untere Viertel eines gängigen Normalbereichs absackt, setzt das Namensgedächtnis gelegentlich aus und ich habe die Namen wichtiger Leute nicht parat.
Eine Weile habe ich darauf geachtet, ob ich bei anderen Betroffenen davon lese, einige Leute mit Unterfunktion (oder Verdacht auf Unterfunktion) auf dieses Phänomen angesprochen und mehrere Treffer gelandet. Unter anderem bei einem Bekannten, der der Meinung war, Thyroxin hätte bei ihm gar keine merkliche Wirkung. Wenn man nicht weiß, was alles an den Hormonen dranhängen könnte, fällt es wohl weniger auf. (Und man müsste ja laut Arzt seine ganz leichte Unterfunktion eigentlich noch nicht behandeln – wie sein Arzt eine leichte Schilddrüsenunterfunktion definierte, weiß ich aber nicht.)
Hier sind leider wieder mal endokrinologische Dogmatiker am Werke, die unbedingt den TSH-Wert als Maßstab für alle SD-Erkrankungen heranziehen wollen.
Die Frage ist immer: Was treibt diesen TSH-Wert hoch und hat der Patient irgendwelche gesundheitliche Probleme, wie rapider Gewichtsanstieg, Müdigkeit, Energielosigkeit, Depressionen und Panikattacken?
Ich verstehe nicht, wie man sich so an den Hypopyhsenwerte TSH hängen kann und dieser entscheiden soll, ob der Patienten eine Therapie mit Thyroxin braucht oder nicht.
Im Zeitalter, wo die chronische Autoimmunthyreopathie vom Typ Hashimoto-Thyreoditis bald zu einer Volkskrankheit mutiert, kommt mir diese Vorstellung, sich am TSH-Wert über 10 mU/L bei der Thyroxingabe zu orientieren, als ein massiver Schlag ins Gesicht aller chronischen SD-Kranken vor. Dert TSH-Wert ist nicht die „eierlegende Woll-Milch-Sau“ für die Ärzte, wenn es um die SD geht.
Nachträglich fällt mir auf, dass sich in dieser Debatte zwei Fragen zu sehr vermischen: Geht es um die Behandlung erhöhter TSH-Werte bei Zufallsbefunden (womöglich ohne Hashimoto und Beschwerden) oder um Hashimoto-Betroffene, die man frühzeitig behandeln könnte? In der Fachliteratur wird das auch nicht konsequent unterschieden, siehe der oben verlinkte Artikel.
Beim Schwabinger Gesundheitsforum war übrigens ein Endokrinologe anwesend, der nach den Vorträgen im kleinen Kreis noch von seinen eigenen Werten erzählte – es war mal ein TSH-Wert von 5 festgestellt worden, aber seine Schilddrüse sei gesund (er wirkte tatsächlich schlank und munter). Vielleicht pulsiert ja seine TSH-Ausschüttung stärker als bei den meisten Leuten, wer weiß …